Balder
Frigg ist weiterhin damit beschäftigt, allem und jedem den Eid abzunehmen,
Balder nicht zu schaden. Stein, Eisen, Feuer, jedes Tier, jede Pflanze, Alben,
Wanen, Asen, Zwerge, selbst Thursen schwören ihrem Wunsch entsprechend.
Alle Erze und Erden, alle Wasser, Gifte und Krankheiten leisten den Eid.
Balder scheint zu genesen. Er schläft wieder gut, zeigt sich den Asen. Nur
seine Arbeit als Richter und Streitschlichter nimmt er nicht mehr auf. Forseti
macht es zu gut; niemand möchte auf sein Wirken noch verzichten.
Frigg wirkt übernächtigt und müde und doch zugleich sehr befriedigt. Endlich ist
ihre Aufgabe getan. Alles, was ist, schwor, Balder zu schonen. Es ist wie ein großes
Aufatmen. Die befürchtete Gefahr ist vorüber. Thor freut sich mit dem lichten Bruder.
Von einer Stunde zur nächsten gibt es wieder Lachen in Asgard. Allen ist nach
einem Fest zumute. Da wird nichts geplant oder vorbereitet. Eben noch speiste
man gemeinsam. Jetzt schieben die Leute die Tische beiseite. Jeder gratuliert
Balder, klopft ihm auf die Schultern, drückt seine Hände. Man wünscht ihm helle
Tage, freundliche Nornen, trinkt ihm zu. Irgendwer wirft spielerisch sein Trinkhorn
in Balders Rücken. Er spürt es nicht einmal.
Und dann sind die Asen wie kleine Kinder. In argloser Kurzweil stoßen und schlagen
sie nach Balder, bewerfen ihn mit allem, was ihnen vor die Hände kommt. Auch Thor
spielt mit. Alle albern und scherzen.
Loki verlässt grübelnd den Saal. Er geht nach Fensalir, zu Friggs Palast, wo sie
sich etwas ausruht. Er gibt sich die Gestalt einer alten magd, als er bei ihr eintritt.
Er reicht ihr ein Horn, gefüllt mit goldfarbenem Met. Sie lächelt müde und dankbar.
»Weißt du, was die Asen in der Halle tun?«, fragt sie unvermittelt.
»Sie sind ausgelassen«, erwidert er bescheiden. »Sie werfen mit allerlei Dingen
nach dem edlen Balder. Doch nichts fügt ihm Schaden zu.«
»Das ist gut.« Lächelnd schließt sie die Augen. »Alle Dinge haben geschworen,
meinen Sohn zu schonen. Es kann ihm nichts mehr geschehen.«
»Alle Dinge?«
»Ja, alle Dinge und alle Wesen, selbst die große Mistel in der Esche beim Tor.
Nur östlich von Walhall«, fügt sie dann nachdenklich an, »da wächst noch eine
ganz junge Mistel. Sie ist zu klein, zu unschuldig. Sie wird schwören, wenn sie
älter ist und hartes Holz besitzt.«
Sie seufzt, wohl, weil ihr eben erst bewusst wird, dass es nie ein Ende haben
wird mit dem Sammeln der Eide. Neue Wesen, neue Dinge, neues Leben - alles
wird sie in die Pflicht nehmen müssen.
Loki lässt sie allein, wandelt die Gestalt. Die kleine Mistel ist schnell gefunden.
Wie jung sie ist. Wie zart und weich. Er reißt sie aus. Nachdenklich dreht er
den kleinen Zweig zwischen den Fingern. Er lässt sich gänzlich in der Hand
verbergen, so winzig ist er noch. Er kann eigentlich niemandem weh tun.
In der Halle spielen sie immer noch. Hödur steht ganz am Rand, mit gesenktem
Haupt. Seine Bewacher, die Odin nach dem Besuch bei der Wala ernannte, be-
teiligen sich an dem arglosen Spiel. Niemand hindert Loki, zu ihm zu treten.
»Warum machst du nicht mit?«, fragt er.
»Du weißt doch, dass ich blind bin. Und bewacht. Ich habe nicht einmal eine
Waffe; nichts, das ich auf ihn werfen könnte; selbst wenn ich ihn sähe.«
»Nimm den Zweig hier«, sagt Loki und drückt ihm das Mistelchen in die Hand.
»Balder steht zehn Schritte entfernt. Du musst heftig werfen, um die Entfernung
zu überwinden. Warte, ich zeige dir die Richtung.«
Hödur lächelt dankbar.
Und dann schleudert er den Zweig in die von Loki angedeutete Richtung.
Die kleine Mistel fliegt. Es ist kein wütender Wurf allein. Es ist wie der Schuss
von einem starken Bogen. Gleich einem Pfeil trifft der Zweig auf Balder. Und
durchbohrt ihn! Balder kann nicht einmal reagieren. Er sinkt tot zu Boden.
Stille! Niemand spricht ein Wort. Zu groß ist der Schock, zu gewaltig der
Schmerz, der jeden in der Halle jetzt ergreift.
»Was ist denn?«, fragt Hödur verwirrt.
Niemand antwortet ihm. Er wird nicht einmal beachtet. Keiner achtet jetzt auf
den anderen. Fassungslos stehen alle, von einem kalten Entsetzen gelähmt. Ein
schreckliches Grauen hält alle umklammert, sprachlos, wortlos, gedankenleer.
Endlich weinen die Asen. Odin steht wie versteinert. Seine Stimme besitzt
keinerlei Klang, als er befiehlt, Hödur in seine Gemächer und zu sperren und
nicht wieder herauszuführen. Er hält dabei den kleinen Mistelzweig in der Hand,
der wieder weich und zart und völlig ungefährlich ist.
Frigg kommt gelaufen, stürzt bei Balder nieder. Sie hält den toten Sohn im
Arm, wiegt ihn. Sie weint wie Nanna. Mit Balder starb auch ein Teil von ihr
selbst; ihr Blick ist so tot wie ihr Sohn. Als sie spricht, sieht sie nur noch Balder an:
»Wer von euch Asen hier will für immer meine Gunst gewinnen? Wer will mir den
Dienst erweisen, den Helweg zu reiten und Balder in Helheim zu finden? Wer
diesen Mut hat, der soll Helja Lösegeld bieten für meinen Sohn, damit sie ihn
heimkehren lässt zu den Lebenden.«
Hermod, Balders Bruder, umarmt die Mutter.
»Ich reite den Helweg«, verspricht er unter Tränen.